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„Für mich persönlich war die Selbstständigkeit keine wünschenswerte Option“

Berlin, 19.06.2023 | Die Zahl angestellter Ärztinnen und Ärzte in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) nimmt seit Jahren konstant zu. In den letzten 10 Jahren hat sich die Zahl fast verdreifacht, von 8.662 angestellten Ärztinnen und Ärzte im Jahr 2011 auf 24.078 Ende 2021. Diese Entwicklung ist insbesondere auf zwei gesellschaftliche Megatrends zurückzuführen, die auch vor der Ärzteschaft nicht Halt machen: der demografische Wandel und ein gewandeltes Berufsbild.

 

Über 40 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in der ambulanten Versorgung sind bereits über 60 Jahre und stehen damit absehbar vor der Pensionierung. Auf der anderen Seite gibt es zwar so viele Ärztinnen und Ärzte wie noch nie in der ambulanten Versorgung, trotzdem sinkt die „Arztzeit“, also die Zeit, die Ärztinnen und Ärzte zur Patientenversorgung aufbringen.

 

Das Berufsbild "Arzt" ist im Wandel

Quelle: KBV über APOTHEKE ADHOC, 15.09.2013
Quelle: KBV über APOTHEKE ADHOC, 15.09.2013

Diese Schere eröffnet sich durch ein gewandeltes Berufsbild. Die ambulante Versorgung in Deutschland ist nach wie vor von dem selbstständigen Arzt in Einzel- oder Gemeinschaftspraxis geprägt. Dort ist der selbstständige Arzt ist nicht nur Arzt, sondern auch Unternehmer, Manager, Buchhalter, Personaler, Controller, Vorarbeiter und Hausmeister, wie ein Werbeplakat der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) noch 2013 warb.

 

Darauf haben jüngere Ärztinnen und Ärzte aber immer weniger Lust. Sie rücken das „Arztsein“, die medizinische Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten in den Fokus und wollen sich von den Bürokratischen und finanziellen Belastungen der Selbstständigkeit freimachen. Dabei spielen geregelte Arbeitszeiten, die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit ebenso eine Rolle, wie der Wunsch zur Arbeit im Team und des fachlichen Austauschs mit Kolleginnen und Kollegen.

"In einem Anstellungsverhältnis in einem MVZ hatte ich die Möglichkeit, eine Führungsposition auszuüben"

Frau Dr. med. Haemi Phaedra Beyer, Radiologin und Geschäftsführerin bei evidia, berichtet aus ihrer Erfahrung und betont, dass die Selbstständigkeit für sie persönlich, wie für viele Ärztinnen und Ärzte ihrer Generation, keine wünschenswerte Option darstellt. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie das medizinisch fokussierte, unabhängige Arbeiten stehen für sie klar im Vordergrund.

 

„Ich habe in der eigenen Familie erlebt, welche Risiken und Verantwortung eine Selbstständigkeit zusätzlich zu der ärztlichen Verantwortung bergen kann. Durch die ärztliche Tätigkeit in einem Angestelltenverhältnis in einem MVZ von evidia hatte ich die Möglichkeit, eine Führungsposition in einem großen MVZ auszuüben und die operative Geschäftsführung von mehr als 15 Standorten in Nordrhein-Westfalen zu übernehmen – und dass, trotz meiner privaten Rolle als Mutter einer kleinen Tochter.“, erzählt Frau Dr. Beyer: „In den MVZ bieten wir den angestellten Ärztinnen und Ärzten Rahmenbedingungen, in denen sie sich in erster Linie auf die medizinische Qualität fokussieren können und sollen.“

Nachfolgesuche wird zunehmend schwierig

Ältere Ärztinnen und Ärzte finden immer schwieriger eine Nachfolgeregelung für ihre Praxis. Insbesondere in ländlichen Regionen schließt die Praxis häufig, wenn der Arzt in den Ruhestand geht. Politiker und Ärztevertreter beklagen diesen Trend, der jedoch nicht neu ist und schon vor 20 Jahren abgesehen werden konnte. Die Lösung der damaligen Bundesgesundheitsministerin war die Einführung der Medizinischen Versorgungszentren in die ambulante Versorgung. Hier konnten die Berufswünsche der jungen Ärztegeneration nachgekommen werden: Flexibilität und Kooperation in der ärztlichen Tätigkeit, ohne die Risiken und Bürden der Selbstständigkeit auf sich zu nehmen. Und so sind es immer häufiger MVZ und MVZ-Gruppen, die die Praxisnachfolge sicherstellen (siehe bspw. hier und hier) und durch Investitionen vor Ort die wohnortnahe haus- und fachärztliche Versorgung sicherstellen.

 

Doch nicht jeder konnte sich mit dieser Entwicklung anfreunden. Insbesondere die Interessenvertreter der selbstständigen Ärzte zeigt bis heute Vorbehalte gegen den Wandel des Berufsbildes und der neuen Versorgungsform. Und obwohl die Mehrzahl der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland bereits seit jeher als Angestellte im Krankenhaus arbeiten, wird den ambulant tätigen Kolleginnen und Kollegen unterschwellig eine schlechtere Versorgung vorgeworfen.

Angestellte Ärztinnen und Ärzte wehren sich gegen Verunglimpfung ihrer Arbeit

Das stößt mittlerweile auf lautstarke Kritik von angestellten Ärztinnen und Ärzten in MVZ-Gruppen. Prof. Dr. med. Sven Diederich, Ärztlicher Leiter von Medicover Deutschland, hat zu den Vorwürfen gegen in MVZ angestellten Ärztinnen und Ärzte eine klare Meinung: „Ich halte es für unangebracht, einen der Berufswege – ob angestellt im MVZ oder selbstständig – als ethisch überlegen darzustellen. Es sollte beachtet werden, dass selbstständige Ärzte zwar ein höheres Einkommen haben, aber auch ein größeres Risiko tragen, während angestellte Ärzte oft ein niedrigeres Einkommen in Kauf nehmen. Es ist wichtig, dass junge Ärzte die Freiheit haben, ihren eigenen Weg zu wählen. Darüber hinaus verdienen das Engagement und das Risiko der selbstständigen Ärzte besondere Anerkennung.“

Und so wiesen anlässlich des 127. Ärztetages in Essen angestellte Ärztinnen und Ärzte aus MVZ in einer Neuauflage eines Offenen Briefes aus dem Oktober 2022 die ungerechtfertigten Vorwürfe gegen ihre Arbeit zurück. Sie kritisieren vor allem, dass MVZ-Gruppen eine schlechtere und rein renditeorientierte Versorgung der Patientinnen und Patienten vorgeworfen und damit die Arbeit aller angestellten Ärztinnen und Ärzten diskreditiert wird. Dass ausgerechnet Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach in dieselbe Kerbe haut, stößt bei den angestellten Ärztinnen und Ärzten auf Unverständnis. Von einem Arzt im Ministeramt erwarte man, dass er sich gegen diese Form der Verunglimpfung stelle und diese unterbinde.

 

Die Ärztinnen und Ärzte, die die Neuauflage des Offenen Briefes unterschrieben haben, möchten mit ihren konkretisierten Aussagen die Forderungen weiter unterstützen. Den pauschalen Vorwürfen und der implizierten Geringschätzung der Arbeit der angestellten Ärztinnen und Ärzte in MVZ-Gruppen treten sie entschlossen entgegen. Eine Diskussion über eine notwendige Strukturreform in der ambulanten Versorgung dürfe nicht auf dem Rücken der angestellten Ärztinnen und Ärzte einer bestimmten Versorgungsform geführt werden, sind sich die Unterzeichnenden einig.

 

Gerade junge Medizinerinnen und Mediziner müssen frei wählen können, wie sie ihren Beruf ausüben möchten: als Selbstständige bzw. Niedergelassene oder eben als Angestellte z. B. in einem MVZ. Beides hat seine Vorteile, aber gerade die angestellte Tätigkeit bietet flexible Arbeitszeitmodelle, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ein festes Einkommen, keine administrativen Verpflichtungen und kein finanzielles Risiko durch langjährige Kredite.

 

 

Dr. med. Dirk Landwehr, Geschäftsführer und ärztlicher Leiter MVZ Corius Saarland GMBH, fasst es wie folgt zusammen: „Es erscheint mir politisch sehr riskant und geradezu absurd, angesichts des eklatanten Ärztemangels und des Praxissterbens bundesweit eine Versorgungsform wie die der nicht inhabergeführten MVZ stark einzuschränken, da viele junge Kolleginnen und Kollegen sich nun einmal nicht mehr dem Risiko der Selbstständigkeit aussetzen wollen, in einem modernen MVZ-Betrieb angestellt aber gerne und motiviert mitarbeiten.“