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Reformen der ambulanten Versorgung - Stiefkind der Gesundheitspolitik?

Der ambulante Bereich wird von der Politik vernachlässigt, obwohl sich dort ein Strukturwandel vollzieht, kritisiert der Geschäftsführer des Bundesverbandes der Betreiber medizinischer Versorgungszentren (BBMV e.V.), Gernot C. Nahrung in der aktuellen Ausgabe des iX-Forum.

Er fordert von Politik und Selbstverwaltung ein Bekenntnis zur Trägervielfalt und regulatorische Rahmenbedingungen, die den Notwendigkeiten des Strukturwandels Rechnung tragen und nicht nur Scheindebatten gerecht werden.


Die Haushaltsdebatten im Deutschen Bundestag sind nicht nur eine Bühne für den offenen Schlagabtausch zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen, sondern offenbaren auch die Themenschwerpunkte, die sich der Minister und die Fraktionen gesetzt haben.

Und so dürfte es kaum jemanden überrascht haben, dass bei der Rede des Bundesgesundheitsministers Prof. Dr. Karl Lauterbach die Themenschwerpunkte klar auf der Krankenhausreform und deren „Entökonomisierung“, der Digitalisierung, den Lieferengpässen bei Medikamenten, sowie der Reform der Notfallversorgung und der Forschung lagen – alles Punkte, denen sich der Bundesgesundheitsminister seit offiziellem Ende der Coronapandemie gewidmet hat.

Kein Wort vom Bundesgesundheitsminister zur Situation in der ambulanten Versorgung, zu den Klagen der Berufsverbände, der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und Ärztekammern über steigende Kosten in den Praxen, stagnierenden Einnahmen, dem Fachkräftemangel und der fehler- und mangelhafte Telematikinfrastruktur.

 

Viele Vertreterinnen und Vertreter aus der ambulanten Gesundheitsversorgung beklagen diese Vernachlässigung seit einiger Zeit. Zwar sollen mit der Krankenhausreform stationäre Überkapazitäten abgebaut werden und, sollen Leistungen ambulantisiert werden, aber bislang spielen die ambulanten Leistungserbringer in der Diskussion einer Neuordnung des Gesundheitssystems beim Bundesgesundheitsminister, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Manch ein Ärztevertreter mutmaßt bereits, dass man im politischen Berlin eher daran arbeite, die ambulante Medizin umzugestalten und die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zu ersetzen.

 

 

Umbruch in der ambulanten Versorgung

Diese Vermutung kann man nicht ganz vom Tisch wischen. Unbestritten sollte jedoch mittlerweile sein, dass die ambulante Versorgung in Deutschland einen Strukturwandel durchläuft. Maßgeblich wird dieser eben durch die Ambulantisierung, Digitalisierung, dem demografischen Wandel und dem sich wandelnden Berufsbild „Arzt/Ärtin“ vorangetrieben.

Die damit einhergehenden Entwicklungen erfordern neue Antworten und angepasste Strukturen in der ambulanten Versorgung. Gerade der demografische Wandel trifft das Gesundheitssystem in doppelter Hinsicht: Zum einen wird die Bevölkerung immer älter und bedarf damit vielfältigerer gesundheitlicher Leistungen, die natürlich zwangsweise zu höheren Kosten führen. Zum anderen werden auch die Ärztinnen und Ärzte immer älter. Bereits heute sind knapp ein Drittel aller niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in der haus- und fachärztlichen Versorgung über 60 Jahre. Damit steigt auch die Zahl der selbstständigen Ärztinnen und Ärzte, die eine Nachfolge für ihre Praxis suchen – zu oft ohne Erfolg – kontinuierlich an.

Diese Entwicklung vollzieht sich vor einem gewandelten Berufsbild, dass auch in den medizinischen Berufen betrifft. Das tradierte Modell der selbstständigen Niederlassung hat in den letzten Jahren massiv an Attraktivität bei der jungen Generation eingebüßt. Hier besteht der Wunsch, mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten zu haben, nach Austausch und Kooperation, weniger Bürokratie und Investitionsrisiko sowie der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Auch viele Behandlungen und Operationen werden in Deutschland noch stationär in Krankenhäusern erbracht, obwohl dies nicht nötig wäre. Der medizinisch-technische Fortschritt erlaubt es heute, dass zahlreiche Operationen und Behandlungen auch ambulant erbracht werden können – meist auch zu geringeren Kosten für das Gesundheitssystem. Deutschland liegt hier im Vergleich zu vielen anderen Ländern noch deutlich zurück.

Um auch komplexere Eingriffe zu ambulantisieren und hohe Qualitätsstandards sicherzustellen, sind entsprechende professionelle Strukturen, hochqualifiziertes ärztliches und medizinisches Personal sowie moderne Medizintechnik und Ausstattung in den Praxen und ambulanten OP-Zentren nötig. Der Aufbau dieser Struktur setzt zunächst umfangreiche Investitionen voraus. Die politisch relevante Frage ist, in welche Hände die Verantwortung für den Aufbau und die Finanzierung dieser angepassten Strukturen gegeben wird. Bislang wirkt es so, als würde der Bundesgesundheitsminister diese Aufgabe bei den Krankenhäusern bzw. dem Staat in Form der Kommunen sehen. Die Reformvorhaben, die auch ambulante Strukturen betreffen, gehen unbestritten in diese Richtung.

 

Vorhaben zur ambulanten Versorgung

Die Dringlichkeit eines Strukturwandels in der ambulanten Versorgung findet man in der Schwerpunktsetzung des Gesundheitsministers hingegen kaum. Unter der Überschrift „Ambulante und stationäre Gesundheitsversorgung“ findet sich im Koalitionsvertrag zwar das Vorhaben der „zügigen Umsetzung einer sektorengleichen Vergütung für geeignete Leistung durch sogenannte Hybrid-DRG“, um die „Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen zu fördern“. Die Ersatzvornahme des BMG zur Festlegung der Hybrid-DRG nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen KBV und GKV-SV lässt jedoch weiter auf sich warten

Weitere Vorhaben der Ampelkoalition sind die Einführung von Gesundheitsregionen und „niedrigschwelligen Beratungsangeboten für Behandlung und Prävention“ in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen – die sogenannten Gesundheitskioske. Auch kommunale Gründung von Medizinischen Versorgungszentren sollen erleichtert werden. Alles Vorhaben, die sich im (bislang innerhalb der Koalition noch unabgestimmten) Entwurf eines „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune (Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz - GVSG)“ wiederfinden.

Auch der „Ausbau multiprofessioneller, integrierter Gesundheits- und Notfallzentren“ wurde bereits angegangen. Diese finden sich sowohl in der Krankenhausreform (Stichwort sektorenübergreifende Versorger, ehemals als Level 1i- und 1n-Krankenhäuser in der Diskussion), als auch in Form der Primärversorgungszentren im GVSG wider.

Gemeinsam mit den KVen hat sich die Ampel vorgenommen, „die Versorgung in unterversorgten Regionen“ sicherzustellen. Die Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich sollen laut Koalitionsvertrag aufgehoben werden. Allerdings sorgte der Bundesminister jüngst per X (ehemals Twitter) für Unmut, als er dieses Vorhaben für lediglich nur noch „denkbar“ hielt.

Insgesamt wolle man „die ambulante Bedarfs- und stationäre Krankenhausplanung gemeinsam mit den Ländern zu einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung weiterentwickeln“, so die Ampelkoalitionäre zu Beginn der Legislatur. Und die Entscheidungen der Zulassungsausschüsse sollen durch die Landesbehörden bestätigt werden, ein großes Misstrauensvotum gegen die ärztliche Selbstverwaltung durch die Politik und Ausdruck des Wunsches nach mehr Gestaltungsmöglichkeiten durch die Landesgesundheitsministerien.

 

Durch diese Schwerpunktsetzung im Umsetzung der Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag fühlen sich ambulante Leistungserbringer daher zu Recht benachteiligt. Die bisherigen Reformvorhaben verfestigen die Wahrnehmung bei den Betroffenen, dass die ambulante Versorgung sukzessive in die Hände der Krankenhäuser oder der Kommunen gelegt werden soll.

Doch mit Blick auf die nach wie vor sehr kleinteilige Wirtschaftsstruktur in der ambulanten Versorgung, stellt sich durchaus die Frage, wie die nicht unerheblichen Investitionen in die Modernisierung und bedarfsgerechte Anpassung der Gesundheitsversorgung und deren organisatorische Umsetzung durch die vorhandene Struktur erfolgen sollen. Der selbstständige Arzt in der Einzelpraxis, oder auch die verhältnismäßig kleine Gemeinschaftspraxis wird vielfach mit dem Aufbau und der Finanzierung einer solchen Infrastruktur überfordert sein. Insofern ist der aktuelle Ruf aus der Ärzteschaft nach einer deutlichen Erhöhung der Honorare diesmal wohlmöglich mehr als eine ritualisierte Pressearbeit zu Beginn der Honorarverhandlungen.

In der ambulanten Versorgung existiert keine Mischfinanzierung. Investitionen in die Praxisausstattung, in Personal und deren Qualifikation, in Digitalisierung und Gerätschaften muss jeder Leistungserbringer aus eigener Tasche stemmen. Wenn nun Krankenhäuser und Kommunen beim Aufbau von „ambulantwirksamen“ Strukturen (Level 1i; kommunales MVZ; Gesundheitskiosk) staatlich (verordnete) Investitionsmittel und Unterstützungsleistungen erhalten, spielt in der Debatte auch der faire Wettbewerb zwischen Leistungserbringer plötzlich eine wichtigere Rolle.

 

MVZ mit privaten, nichtärztlichen Kapitalgebern

Gleichzeitig wird ambulanten Unternehmensgruppen, die sowohl das nötige Know-How , als auch Investitionskapital mitbringen, mit Ablehnung aus weiten Teilen der Interessensvertretung der selbstständigen Ärzteschaft, als auch und  Teilen der Politik begegnet. Und dass, obwohl die Datenlage kein Anlass zur Sorge gibt: Alle MVZ-Träger haben in der Humanmedizin Ende 2021 rund 13 Prozent aller ärztlichen Sitze betrieben. 5,4 Prozent der Sitze liegen bei einem MVZ mit Krankenhausträger. Der Anteil der Sitze in MVZ-Gruppen mit privaten Kapitalpartnern wird bundesweit als oberer Richtwert auf 1,3-1,5 Prozent geschätzt. Das ohnehin diffamierende Bild von „Heuschrecken“, die angeblich über die Praxislandschaft hereinbrechen, ist also evidenzbasiert nicht zu belegen.

Die Gruppenbildung bei MVZ ist dabei kein Phänomen, dass ausschließlich von investorenfinanzierten MVZ-Gruppen ausgeht, sondern findet sich auch in anderen Träger- und Inhaberschaften wieder. Das ist ein Symptom, nicht Ursache des Strukturwandels. Der Vorteil bei der Zusammenarbeit mit Fremdkapitalgeber ist jedoch, dass die notwendige Anpassung von Versorgungsstrukturen schnell und umfassend die notwendigen Investitionsmittel erhält. Für die Zukunft der ambulanten Versorgung liegen die Vorteile bei der Möglichkeit der Skalierung, Schaffung attraktiver Arbeitsplätze und Netzwerkeffekte zur flächendeckenden Versorgung, sowie einem Beitrag zur Trägervielfalt und des Qualitätswettbewerbs zwischen den Leistungserbringern.

Ein regulatorischer Eingriff, der das Engagement von Kapitalgebern jenseits von Klinikkonzernen de facto verhindern würde, ändert nichts an den Notwendigkeiten des Strukturwandels. Vielmehr würde sie Lücken in die haus- und fachärztliche Versorgung reißen und dazu führen, dass die durch MVZ-Gruppen begonnene Transformation hin zu zukunftsfähigen Versorgungsstrukturen abgewürgt wird. Davon abgesehen, dass sich bei weiteren Einschränkungen auf Träger- oder Inhaberschaft bereits die Frage der Verfassungs- und Europarechtskonformität stellt.

 

Eine zielführende Diskussion wird nur gelingen, wenn der Realität ins Auge geschaut wird: Wir sind in der Situation, in der wir jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer in der vertragsärztlichen Versorgung benötigen. Ein Bekenntnis von der Politik und vor allem der Selbstverwaltung zur Trägervielfalt ist überfällig und der ein erster Schritt für einen Plan zur Erfüllung des Sicherstellungsauftrages. Dann kann in einem zweiten Schritt über die wichtigen Punkte der Transparenz für die Sicherstellung eines faireren Wettbewerbsbedingungen für alle, die bestmögliche Qualität der ambulanten Versorgung, ohne Leistungseinengungen und „Rosinenpicken“ sowie der Sicherstellung der ärztlichen Unabhängigkeit in ambulanten und stationären Strukturen, diskutiert werden.